BGH, Urteil vom 31. Mai 2023 – IV ZR 58/22 = NJW 2023, 2430
In seinem Urteil vom 31. Mai 2023 widmete sich der BGH der Auslegung von AVB einer Berufsunfähigkeitsversicherung eines Beamten. Konkret ging es um die Auslegung einer Dienstunfähigkeitsklausel und ihrem Bezug zu den Mitwirkungsobliegenheiten des Versicherungsnehmers zur Kontrolle der Berufsunfähigkeit durch den Versicherer.
Der klagende Versicherungsnehmer machte Leistungsansprüche aus seiner Berufsunfähigkeitsversicherung gegen die beklagte Versicherungsgeberin geltend. Er war Bürgermeister einer Gemeinde und wurde durch Bescheid vom 14. Mai 2019 mit Ablauf des Monats Mai 2019 aufgrund psychischer Beeinträchtigungen in den Ruhestand versetzt. Jedoch lehnte der Versicherer die Zahlung der Leistungen mit dem Verweis ab, der Versicherungsnehmer habe verweigert, sich den Allgemeinen Vertragsbedingungen entsprechend einer fachärztlichen Untersuchung zur Feststellung der dauernden Dienstunfähigkeit zu unterziehen.
Hierzu Auszüge aus den zugrundeliegenden AVB:
„§ 5 Welche Mitwirkungspflichten sind zu beachten, wenn Leistungen verlangt werden?
(1) Werden Leistungen aus dieser Versicherung … verlangt, so sind uns unverzüglich folgende Unterlagen einzureichen: …
(3) Bei Berufsunfähigkeit der versicherten Person sind zusätzlich einzureichen:
b) ausführliche Berichte der Ärzte, die die versicherte Person gegenwärtig behandeln bzw. behandelt oder untersucht haben, über Ursache, Beginn, Art, Verlauf und voraussichtliche Dauer des Leidens sowie über den Grad der Berufsunfähigkeit …;
(4) Wir können außerdem – allerdings auf unsere Kosten – weitere ärztliche Untersuchungen durch von uns beauftragte Ärzte … verlangen, insbesondere zusätzliche Auskünfte und Aufklärungen. …“
Die Dienstunfähigkeitsklausel lautet auszugsweise:
„Ergänzend zu § 2 der Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung gilt als vereinbart:
Alternativ zu der Voraussetzung für bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit, dass die versicherte Person ihrem zuletzt ausgeübten Beruf nicht mehr nachgehen kann, reicht es bereits aus, wenn die versicherte Person als Beamtin/Beamter … infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten dauernd unfähig ist und dazu wegen allgemeiner Dienstunfähigkeit (iSd § 44 I 1 des Bundesbeamtengesetzes und des § 26 I 1 des Beamtenstatusgesetzes, Stand: 01.05.2011, …) in den Ruhestand versetzt oder entlassen worden ist.“
Diese Untersuchungen hat der Versicherungsnehmer abgelehnt, da der Bescheid zur Versetzung in den Ruhestand eine unwiderlegliche Vermutung seiner Berufsunfähigkeit begründe. Weder vor dem Landgericht, noch dem Oberlandesgericht hatte der Kläger mit dieser Auffassung Erfolg.
Der BGH kommt wie auch schon das Berufungsgericht zu dem Schluss, dass aufgrund unzureichender Mitwirkung des Versicherungsnehmers ein Anspruch noch nicht fällig sei, § 14 I VVG. Dies gehe aus den Versicherungsbedingungen hervor, die entsprechend der Grundsätze zur Auslegung allgemeiner Versicherungsbedingungen auszulegen seien. Nach diesen seien AVB aus Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs zu bewerten. Hierbei komme es auf dessen Verständnismöglichkeiten ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf die Interessen des Versicherungsnehmers an (st. Rspr. des BGH, vgl. BGHZ 232, 344)
Aus dem Wortlaut sei für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer ersichtlich, dass zwar ein Handeln des Dienstherrn für den Eintritt der Berufsunfähigkeit erforderlich sei, doch dieses alleine noch keinen Anspruch begründe (vgl. OLG Frankfurt r+s 2008, 122 f., OLG Nürnberg VersR 2003, 1028). Insbesondere die Worte „und dazu“ verdeutlichen, dass auch Beamte wegen „körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten dauernd unfähig“ sein müssen. Es werde nicht ersichtlich, dass der Versicherer aufgrund des Verwaltungsbescheides auf eine selbstständige Prüfung hinsichtlich dieser Voraussetzung verzichten will.
Zwar spreche die Dienstunfähigkeitsklausel einem Beamten besonderen Schutz zu. Allerdings reiche dieses Schutzzugeständnis des Versicherers nicht so weit, dass auf eine eigenständige Prüfung generell verzichtet werden soll (a.A. Rixecker in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 46 Rn. 54). Schutzzweck sei es, dem Versicherungsnehmer nicht das Risiko aufzuerlegen, auf eine andere als die von ihm ausgeübte Tätigkeit verwiesen zu werden. Darüber hinaus werde ohne ärztliche Nachweise eine widerlegliche Vermutung der Arbeitsunfähigkeit zugesprochen, wenn der Versicherungsnehmer wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt wird. Auf eine Unwiderleglichkeit dieser Vermutung würde ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer nicht schließen (vgl. OLG Nürnberg VersR 2003, 1028).
Auch ein Vergleich zur Rechtsprechung des Senates zu den einfachen Beamtenklauseln lässt keinen anderen Rückschluss zu. Zwar gehe aus diesen hervor, es sei nicht fernliegend, dass der Versicherer auf eine eigene Prüfung der Berufsunfähigkeit verzichte (vgl. BGH VersR 1989, 903). Doch treffe dies hier aufgrund der dargestellten Erwägungen nicht zu. Dem Versicherer stehe es frei zu entscheiden, ob sein Leistungsangebot einer widerlegbaren oder unwiderlegbaren Vermutung unterliegen soll.
Mit dieser Entscheidung hat der BGH in Einklang mit der übrigen Rechtsprechung und den überwiegenden Stimmen in der Literatur eine Auslegung des Klauselwortlautes vorgenommen und dem Versicherer einen vertraglichen Gestaltungsfreiraum hinsichtlich der Widerlegbarkeit der oben dargestellten Vermutung zugesprochen. Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf andere Fälle hängt vom genauen Wortlaut der Versicherungsbedingungen im Einzelfall ab.
Luca Kupies