BGH, Beschluss vom 10.05.2017 – IV ZR 30/16
In dem Beschluss vom 10.05.2017 – IV ZR 30/16 setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, ob eine Anzeigepflichtverletzung durch unvollständige Angaben im Rahmen einer „Erklärung vor dem Arzt“ vorliegt.
Der Kläger beantragte bei der Beklagten am 1.11.2007 eine Risikolebensversicherung mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Die im Antragsformular unter Ziffer 1 gestellten Fragen nach Krankheiten, Gesundheitsstörungen oder Beschwerden beantwortete der Kläger teilweise mit „ja“. Bei den insoweit abgefragten ergänzenden Angaben zu mit „ja“ beantworteten Fragen teilte er aber nicht mit, dass er im September 2004 nach einem Sporttraining eine kurze Ohnmacht erlitten hatte, ein eingeholtes EEG einen unklaren Befund ergeben hatte und deshalb eine Überweisung an eine radiologische Praxis erfolgt war, wo am 17.11.2004, 24.1.2005 und 17.7.2006 jeweils MRT-Untersuchungen des Schädels stattgefunden hatten. Daher veranlasste die Beklagte vor Antragsannahme eine ärztliche Untersuchung. Auf einem von der Beklagten hierzu erstellten Formular war eine „Erklärung vor dem Arzt“, in deren Rahmen u.a. die Frage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden des Herzens oder der Kreislauforgane erneut bejaht war. Als ergänzende Erläuterung dazu war im Arztzeugnis vom 6.12.2007 angegeben:
„2004 – 1x Synkope kard. Abklärung: o.B. neurol. Abklärung: o.B.“
Danach erfolgte die Annahme des Antrags durch die Beklagte.
Im Juli 2010 wurde dem Kläger ein Glioblastom im zentralen Nervensystem operativ entfernt. Dazu heißt es im Bericht der Universitätsklinik am Main: „Bei dem Patienten ist seit ca. 6 Jahren eine Gliose bekannt.“ Im Bericht des Strahlenklinikums heißt es: „Patient gibt an, dass seit 2004 eine Gliose links bekannt sei.“ Daraufhin lehnte die Beklagte ihre Leistungspflicht für die Berufsunfähigkeit ab und erklärte den Rücktritt und die Kündigung des Versicherungsvertrages, später die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung. Der Kläger macht mit seiner Klage geltend, dass er bei Antragstellung keine Kenntnis von einer Gliose gehabt habe. Von dem Befund habe er erst 2010 erfahren. Von seiner Ärztin sei ihm mitgeteilt worden, dass er gesund sei. Darüber hinaus sei eine Gliose weder eine Erkrankung noch ein krankhafter Befund, weshalb die Beklagte den Vertrag auch bei Kenntnis von dieser Diagnose abgeschlossen hätte.
Nachdem die Klage in den Vorinstanzen erfolglos blieb, führte die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung.
Laut BGH ist der vom Versicherer eingeschaltete Arzt dessen passiver Stellvertreter, da er zur Entgegennahme der Antworten des Antragstellers beauftragt ist. Kommt es auf Betreiben des Versicherers im Zuge der Verhandlungen über den Abschluss einer Lebens- und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung zur Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses auf einem vom Versicherer erstellten Formblatt und hat der VN dabei im Rahmen der „Erklärung vor dem Arzt“ gegenüber dem Arzt vom Versicherer vorformulierte Fragen zu beantworten, so stehen die vom Arzt in Erfüllung dieses Auftrages gestellten Fragen den Fragen des Versicherers und auch die abgegebenen Erklärungen dem Versicherer gleich (Armbrüster in Prölss/Martin Versicherungsvertragsgesetz, 29. Auflage 2015, § 19 Rn. 71). Als passiver Stellvertreter steht der Arzt bei der Aufnahme der „Erklärung vor dem Arzt“ einem Versicherungsagenten gleich. Was dem Arzt zur Beantwortung der vom Versicherer vorformulierten Fragen gesagt wird, ist dem Versicherer gesagt.
Alleine aus der unrichtigen oder unvollständigen Beantwortung von Gesundheitsfragen kann nicht auf das Vorliegen von Arglist geschlossen werden. Arglist erfordere zusätzlich, dass der Versicherungsnehmer erkennt und billigt, dass der Versicherer seinen Antrag bei Kenntnis des wahren Sachverhalts gar nicht oder nur zu anderen Konditionen annehmen werde (Looschelders, VersR 2011, 697, 702). Bei unklaren oder ersichtlich unvollständigen Antworten trifft den Versicherer eine Obliegenheit zur Nachfrage. Kann der Versicherer erkennen, dass der Versicherungsnehmer seiner Anzeigeobliegenheit noch nicht vollständig genügt hat, erfordern es die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Risikoprüfung, dass er die notwendigen Erkundigungen beim Versicherungsnehmer einholt. Andernfalls verstößt er gegen Treu und Glauben, wenn er sich später auf die Verletzung der Anzeigepflicht beruft (Looschelders in Looschelders/Pohlmann, Versicherungsvertragsgesetz, 3. Auflage 2016, § 19 Rn. 51).
Aus der Mitteilung des Klägers, dass eine neurologische Abklärung der Synkope stattgefunden hat und ohne Befund geblieben ist, konnte die Beklagte allerdings nicht entnehmen, dass es zu wiederholten MRT-Untersuchungen des Schädels gekommen ist. Nach Auffassung des Senates lässt die Mitteilung des Klägers es allerdings möglich erscheinen, dass er davon ausgegangen ist, die Angaben über die Synkope und eine nachfolgende neurologische Abklärung, würden es der Beklagten gestatten, in gleicher Weise, eine Risikobewertung vorzunehmen wie nach ausdrücklicher Bezeichnung der durchgeführten MRT-Untersuchungen. Immerhin lege die erfolgte Angabe offen, dass die Frage im Antragsformular unrichtig beantwortet worden war, indem dort keine neurologischen Untersuchungen, sondern nur Routineuntersuchungen mitgeteilt worden waren. Damit war der Beklagten aber zumindest ein Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen gegeben, soweit die Synkope im Jahre 2004 als Anlass durchgeführter neurologischer Untersuchungen für ihre Risikobeurteilung von Relevanz war.
Sarah Appelrath