OLG Hamm, Urteil vom 11.11.2016 – 20 U 119/16
Das OLG Hamm hat mit Urteil vom 11.11.2016 (20 U 119/16) entschieden, dass der Anspruch gegen den Krankheitskostenversicherer wegen künstlicher Befruchtung nicht daran scheitert, dass der Versicherte nicht verheiratet ist, sondern eine nichteheliche Lebensgemeinschaft führt. Die medizinische Notwendigkeit sei in der Krankheitskostenversicherung objektiv und ex ante zu beurteilen. Daher seien aber auch seinerzeit gegebene Umstände zugunsten des Versicherungsnehmers zu berücksichtigen, auch wenn sie etwa von dem behandelnden Arzt übersehen wurden.
Die 1976 geborene Klägerin lebte seit dem Jahr 2000 zunächst unverheiratet in einer Partnerschaft mit einem Mann, der an einer Fertilitätsstörung leidet. Im Hinblick darauf haben sich die Klägerin und ihr Partner zur Erfüllung des bestehenden Kinderwunsches zu einer künstlichen Befruchtung nach der ICSI-Methode entschieden. Hierfür stellte die Klägerin zunächst mündlich einen Kostenübernahmeantrag bei der Beklagten, bei der die Klägerin privat krankenversichert ist. Diese lehnte die Kostenübernahme ab, da die Klägerin nicht mit ihrem Partner verheiratet war. Dennoch unterzog sich die Klägerin ab September 2010 insgesamt neun Behandlungszyklen einer kombinierten IVF-/ICSI-Behandlung. Dabei stellten die Ärzte eine stark reduzierte ovarielle Reserve sowie eine fehlende bzw. stark eingeschränkte Durchgängigkeit ihrer Eileiter fest. Die Behandlungen führten somit nicht zu einer Schwangerschaft.
Nach dem vierten von insgesamt neun erfolglosen Behandlungszyklen forderte die Klägerin die Beklagte zur Erstattung der angefallenen Kosten auf. Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung mit der Begründung ab, dass die vermutete Ovarialinsuffizienz hinter der Erkrankung ihres Partners zurückstehe.
Die Berufung der Klägerin war teilweise erfolgreich. Soweit das OLG Hamm die Behandlungen als medizinisch notwendig ansah, gab es den Ansprüchen der Klägerin auf Ersatz ihrer Aufwendungen für die Heilbehandlungskosten statt. Sowohl die IVF-Behandlung als auch die ICSI-Behandlung hätten der Behandlung der Klägerin gedient. Dass die Klägerin und ihr Partner nicht verheiratet waren, sei anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung, wo nach § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V unter bestimmten Voraussetzungen die Leistungspflicht bei nicht verheirateten Paaren entfallen kann, für die private Krankheitskostenversicherung gemäß §§ 192 ff. VVG nicht relevant.
Bereits der erste Behandlungszyklus war als Heilbehandlung aufgrund der eingeschränkten ovariellen Reserve und des vollständigen bzw. teilweisen Tubenverschlusses, die eine Krankheit darstellen, medizinisch notwendig. Mit dem Begriff der medizinischen Notwendigkeit einer Heilbehandlung werde – für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbar – zur Bestimmung des Versicherungsfalls ein objektiver, vom Vertrag zwischen Arzt und Patient unabhängiger Maßstab eingeführt. Insoweit hänge die Beurteilung nicht von der Auffassung des Versicherungsnehmers oder des ihn behandelnden Arztes ab, sondern von den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung. Stehe danach die Eignung einer Behandlung, eine Krankheit zu heilen oder zu lindern, nach medizinischen Erkenntnissen fest, folge daraus grundsätzlich auch die Eintrittspflicht des Versicherers. Medizinisch notwendig könne eine Behandlung aber auch dann sein, wenn ihr Erfolg zwar nicht sicher vorhersehbar sei, wenn es aber im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar erscheint, die Behandlung als notwendig anzusehen (Voit in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. 2015 § 192 Rn. 49 ff.)
Nach den Feststellungen des Sachverständigen stellte die IVF/ICSI-Behandlung eine medizinisch anerkannte Methode zur Überwindung der Sterilität der Klägerin dar. Hierauf sei auch abzustellen, obwohl hierüber zu Beginn des ersten Behandlungszyklus noch keine Erkenntnisse bei den behandelnden Ärzten vorgelegen hätten. Aus Sicht der versicherten Person müsse es darauf ankommen, ob eine medizinische Notwendigkeit nach den objektiv möglichen – gegebenenfalls tatsächlich nicht erhobenen – Befunden und Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Maßnahme tatsächlich gegeben war (Reinhard in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Auflage 2016 § 192 Rn. 13).
Andernfalls gehe eine fehlerhafte und/oder unvollständige Befunderhebung des Arztes zulasten des versicherten Patienten, obgleich tatsächlich eine medizinische Notwendigkeit vorlag und bei ordnungsgemäßer und/oder vollständiger Befunderhebung eine Eintrittspflicht gegeben wäre. Soweit im Einzelfall eine reine ex-ante-Betrachtung vorgenommen werde, diene dies dazu, dass vertretbare Fehleinschätzungen des behandelnden Arztes im Hinblick auf die medizinische Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten sich nicht zulasten des Patienten/Versicherten auswirken dürften. Das bedeute aber nicht, dass stets eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen sei.
Sarah Appelrath