BGH, Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15 = VersR 2016, 177
In seinem Urteil vom 09.12.2015 (Az. IV ZR 272/15; VersR 2016, 177) befasste der BGH sich mit der Frage, inwieweit das Geheimhaltungsinteresse des Versicherers in einer vor Gericht ausgetragenen versicherungsrechtlichen Streitigkeit Berücksichtigung findet.
Im Einzelnen ging es um eine Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung gem. § 203 Abs. 2 VVG. Nachdem der Versicherer die Prämie um ca. 130,00 Euro erhöht hatte, wehrte der Versicherungsnehmer sich gegen die Erhöhung und erhob Klage, um die Rechtmäßigkeit der Erhöhung überprüfen zu lassen.
Die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Prämienanpassung nach § 203 Abs. 2 VVG erfordert regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens, das sich mit den vom Krankenversicherer zugrunde gelegten Berechnungsgrundlagen auseinandersetzt (vgl. Reinhard, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 2. Aufl. 2011, § 203 Rn. 16). Diese Berechnungsgrundlagen erlaubten in den vorliegend entschiedenen Fall Rückschlüsse auf die Unternehmenspolitik des Krankenversicherers und waren daher als Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse in besonderem Maße geschützt. Den Kern des entschiedenen Falles bildete dementsprechend die Frage, wie das Geheimhaltungsinteresse des Krankenversicherers einerseits und das Interesse des Versicherungsnehmers an der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Prämienanpassung andererseits miteinander in Einklang gebracht werden können.
Das zunächst mit dem Fall befasste Amtsgericht löste die beschriebene Interessenkollision offenbar dahingehend auf, dass der Versicherungsnehmer keine Einsicht in die maßgeblichen Geschäftsunterlagen des Krankenversicherers nehmen durfte. Das auf diesen Geschäftsunterlagen basierende – wohl von Seiten des Krankenversicherers beigebrachte – Sachverständigengutachten ließ das Amtsgericht aufgrund eines von ihm angenommenen Beweisverwertungsverbots unberücksichtigt. Dies hatte wiederum zur Folge, dass der in Bezug auf die Berechtigung der Prämienanpassung darlegungs- und beweisbelastete Krankenversicherer (vgl. Reinhard, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 2. Aufl. 2011, § 203 Rn. 16) in der ersten Instanz unterlag.
Dem ist der BGH nicht gefolgt. Stattdessen hielt er an dem bereits in anderen Zusammenhängen befürworteten (BVerfG VersR 2000, 214, 216; BGHZ 183, 153 Rn. 23; BGH NJW 2009, 2894 Rn. 31) Ansatz fest, den beschriebenen Interessenkonflikt möglichst durch die Einführung der Berechnungsgrundlagen in den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Verpflichtung der Beteiligten zur Verschwiegenheit nach §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 S. 1 GVG aufzulösen.
Eine solche Vorgehensweise begründe weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Versicherungsnehmers aus Art. 103 Abs. 1 GG noch verstoße sie gegen das in Art. 6 EMRK verankerte Gebot des fair trial. Ebenso wenig seien das nach § 299 Abs. 1 ZPO bestehende Recht der Parteien auf Akteneinsicht oder der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit nach § 357 Abs. 1 ZPO verletzt.
Denn zum einen seien die Berechnungsgrundlagen für das Gericht und den am Prozess beteiligten Versicherungsnehmer einsehbar und erörterbar, so dass es gerade zu keinem mit dem Zivilprozessrecht unvereinbaren „Geheimprozess“ komme. Zum anderen werde dem Geheimhaltungsinteresse des Krankenversicherers hinreichend Rechnung getragen. Insbesondere biete die Anwendung der §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 S. 1 GVG dem Krankenversicherer eine bessere Möglichkeit, seine Rechte prozessual durchzusetzen, ohne die eigenen Betriebsgeheimnisse in einem über das zur prozessualen Durchsetzung unbedingt notwendige Maß preiszugeben.
Insgesamt illustriert die Entscheidung des BGH die im Versicherungsrecht auch in anderen Zusammenhängen auftretende Problematik, dass die gerichtliche Prüfung von versicherungsrechtlichen Zahlungs- bzw. Erstattungsansprüchen bisweilen das schutzwürdige Geheimhaltungsinteresse des Versicherers berührt. Mit einer ähnlichen Problematik hat der BGH sich in seinem aktuellen Urteil zum Auskunftsanspruch des Versicherungsnehmers gegen den Lebensversicherer (BeckRS 2015, 20552) beschäftigt. Die hiesige Entscheidung ist in normativer wie dogmatischer Hinsicht sorgfältig begründet. Sie enthält einen jedenfalls für die gerichtliche Überprüfung der Prämienanpassung gem. § 203 Abs. 2 VVG angemessenen Kompromiss.
Dr. Boris Derkum